Wie der Talmud zur jüdischen Identität führte

Von Jurek Schulz

Der Tenach, die hebräische Bibel, die die Christen als Altes Testament bezeichnen, besteht aus
Tora (Gesetz): 5 Bücher Mose
Newi’im (Propheten): Josua, Richter, Samuel, Könige, Jesaja, Jeremia, Hesekiel, Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi
Ketuwim (Schriften): Psalmen, Sprüche, Hiob, Ruth, Hoheslied, Prediger, Klagelieder, Ester, Daniel, Esra, Nehemia, Chronik
Die Anfangsbuchstaben der einzelnen Teile ergeben die Konsonanten für das hebräische TeNaCH. In der Bibel lesen wir, wie die Tora das Leben des jüdischen Volkes prägte. Die Gebote zeigen, wie die Menschen nach Gottes Willen leben sollten.

Das Herzstück
967 v. Chr. wurde der Tempel in Jerusalem fertig gestellt, um Gottes Gegenwart zu repräsentieren. Er entstand in der Regierungszeit König Salomos. In ihm wurden Opfer gebracht und Gott angebetet. Doch 586 v. Chr. wurde dieser Tempel durch die Babylonier unter Nebukadnezar zerstört, was für das religiöse Leben der Juden eine große Herausforderung darstellte. Wie sollten sie nun in Gottes Ordnungen leben? Das Tieropfer im Tempel zur Vergebung der Sünden war nicht mehr möglich. In der Verbannung in Babylon wurden deshalb „kleine Tempel“ gegründet, die Synagogen. Dort wurde nun Gottes Wort vermittelt und Gott angebetet.

Im Zentrum
Nach der Rückkehr aus dem Exil konnte im Jahr 515 v. Chr. der zweite Tempel eingeweiht werden. Mit einer Fläche von 24 Fußballfeldern war er das größte in der damaligen Welt bekannte Bauwerk. Nachdem Israel unter persischer, griechischer, ptolemäischer und seleukidischer Herrschaft gewesen war, erreichte die Demütigung unter dem Seleukidenherrscher Antiochus IV Epiphanes einen Höhepunkt. Am 6. Dezember 167 v. Chr. wurde der Tempel dem Zeus Olympus geweiht. Die Juden wurden zu einem griechischen Kult gezwungen, bei dem sie im Tempel Zeus Schweine und andere unreine Tiere als Opfer darbringen mussten. Die Antwort war ein allgemeiner jüdischer Aufstand, bei dem viel Märtyrerblut floss, der aber erfolgreich war. Am 14. Dezember 164 v. Chr. wurde der Tempel wieder eingeweiht, woran das Chanukkafest noch heute erinnert.

Der Wendepunkt
Zu dieser Zeit entstand die Partei der Pharisäer, welche die Heiligung des Menschen durch das Einhalten von Gottes Geboten forderte. Im Zuge dessen versuchten sie, das ganze Leben systematisch unter Gottes Geboten zu ordnen. Sie förderten auch eine Art allgemeines Priestertum: Gebet und Bibelstudium in der Synagoge sollte zur täglichen Aufgabe jedes Juden werden, nicht mehr nur einer Priesteraristokratie.
Um die Gefahr der Assimilierung wie zur Zeit des Hellenismus zu bekämpfen, war eine verbindliche Ordnung nötig, die weltweit galt. So wurde die mündliche Überlieferung neben der schriftlichen Tora erweitert, damit alle Bereiche des täglichen Lebens geregelt werden konnten. Natürlich sind viele der 613 Gebote und Verbote auf den Tempel bezogen, und diese werden heute nur noch diskutiert. Aber ebenso befassen sich die Gebote mit Speise-, Schabbat- und Festtagsordnungen, Hochzeiten, Beerdigungen, Reinheitsregeln usw.
Der „Auslegungszaun“ ist bis heute bestimmt von der Absicht, Gottes Wort rein zu erhalten. Die Pharisäer konzentrierten sich auf die religiöse Verwirklichung der Tora.

Zum Kernstück
Mit der römischen Herrschaft ab 64 v. Chr. entstand eine weitere Partei, die „Zeloten“, die sich zu bewaffneten Widerstandskämpfern entwickelten. Sie zogen Israel in der Folge in den Abgrund eines schrecklichen Krieges, der mit der Zerstörung des Tempels und der Stadt endete. Am 6. August 70 n. Chr. hörte das tägliche Opfer auf und am 9. Aw der jüdischen Zeitrechnung wurde der Tempel niedergebrannt. Exakt am gleichen Tag wie schon 586 v. Chr. unter Nebukadnezar!
Erneut konnte der Tempel in Jerusalem nicht mehr das Zentrum der Anbetung Gottes sein, so dass wieder die Lehrhäuser, die Synagogen, diese Bedeutung übernahmen. An die Stelle der Priester im Tempel traten nun die „geistlichen Priester“, die Rabbiner, die primär die Funktion eines Lehrers hatten.
Im „Minjan“ wurde geregelt, was wo wie und wann gebetet werden sollte. Das „Zehn-Personen-Gebet“ besagt, dass überall dort, wo zehn Männer zum Gebet zusammen kommen, ein „kleiner Tempel“ zum Gebet errichtet würde. Auch das „Sch’ma Israel“ (Glaubensbekenntnis der Juden) und das „Schmone Esre“ (Achtzehnbittengebet) wurden festgelegt.

Die Ordnung
Was heute im orthodoxen Judentum gilt, wurde zu einem großen Teil in der Schule des Gelehrten Hillel 70 n. Chr. in Javne entschieden, wo es galt, die Gestalt des Judentums ohne Tempel zu ordnen. Die Nachkommen der Schule Hillels hatten bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. den Vorsitz im Jüdischen Rat, dem Nachfolger des Sanhedrin, des Hohen Rats. Hillel selbst kam väterlicherseits aus dem Haus Davids, vom Stamm Juda, und mütterlicherseits aus dem Stamm Benjamin. Sein

Ansehen war so hoch, dass es noch heute von ihm heißt, „als die Tora vom Volke Israel vergessen wurde, kam Esra, der Schreiber, nach Babylon, um sie ihm ins Gedächtnis zurückzurufen. Als sie aber aufs Neue vergessen wurde, war es Hillel, der aus Babylon eintraf, um sie vor dem Vergessen zu retten“ („Die Weisheit des Talmud“, Elie Wiesel, S. 19).
Hillels Sohn, Jochanan ben Zakkai, wurde Leiter des nachbiblischen Judentums. Sein Verdienst war es, das ganze Material der existierenden Auslegungen der Tora zu sichten, zu ordnen und zu formulieren. Aus dieser mündlichen Tora entstand im 2. Jahrhundert n. Chr. die Mischna (Wiederholungen). Jehuda ha Nasi war der letzte Redakteur der Mischna, die abschließend sechs große Ordnungen umfasste, welche das ganze Leben des jüdischen Menschen von der Wiege bis zur Bahre sowie das komplette jüdische Haus- und Familienleben regelte.

Die Sammlung
Auch die Mischna wurde ausgelegt und kommentiert. Diese Auslegungen (Midraschim) und Erzählungen (Aggadot) bezeichnet man als Gemara (das Vollendete).
Der Talmud (wörtlich Belehrung) ist ein Monumentalwerk, an dem etwa 2800 Personen über mehrere Jahrhunderte beteiligt waren. In Deutsch umfasst das Werk fast 10 000 Seiten und ist in zwölf Bände aufgeteilt. Der Talmud ist bis zum heutigen Tag weltweit verbindlich für das orthodoxe Judentum. Es gibt zwei Varianten: den Jerusalemer Talmud (Talmud Jeruschalmi, ca. 250-1450 n. Chr.) und den Babylonischen Talmud (Talmud Bawli, ca. 200 -1520 n.  Chr.). Der Babylonische Talmud hat ungefähr den dreifachen Umfang des Jerusalemer Talmuds.

Der Inhalt
Der Inhalt des Talmuds setzt sich zusammen aus den Texten der Tora, den dazu gehörenden Erklärungen der Mischna, der Gemara und von weiteren Auslegern, etwa den Kommentaren des französischen Rabbiners Schlomo ben Jitzchak (11. Jahrhundert), genannt Raschi, und seiner Schule im babylonischen Talmud. So findet sich auf einer Seite des Talmud jeweils die Stelle aus der Mischna mit der entsprechenden Auslegung aus der Gemara und den dazugehörigen Kommentaren.
In diesem umfassenden Werk finden sich gesetzliche Bestimmungen (Halacha) und erzählerische oder erbauliche Betrachtungen (Haggada).

Im Mittelpunkt
Die Rabbiner verstehen sich bis heute als die wahren Nachfolger Moses, der Propheten und der Pharisäer. Der von ihnen ausgelegte Talmud aus Mischna und Gemara ist verbindlich für die Gemeinde. Diese nachbiblische Orthodoxie reicht bis in die Gegenwart hinein. Zusammen mit dem Gebot der Absonderung des jüdischen Volkes gegenüber den anderen Völkern half diese festgelegte Ordnung, die Identität zu bewahren und als Volk durch alle noch folgenden zwei Jahrtausende Diaspora zu überleben. Gleichzeitig fällt auf, dass das theologische Studium des Talmuds sich auf die Tora (fünf Bücher Mose) konzentriert und die anderen Bücher des Tenach weniger Gewicht haben.

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