Von Jurek Schulz
Ich treffe immer wieder Christen, die mir sagen, echter biblischer Glaube sei nur dann möglich, wenn er zurückführt zu seinen Wurzeln, dem Judentum. Diese Folgerung führt bei manch einem zu dem Versuch, nach rabbinisch-jüdischer Lebensweise zu leben oder gar zum Judentum überzutreten.
Bevor ich mich mit diesem Trend auseinandersetze, möchte ich klarstellen, dass ich all jene Menschen bewundere, die während des Krieges als Nichtjuden Juden unter Einsatz ihres Lebens halfen und sich mit ihnen solidarisierten. Heute noch legen ihre Namen auf der „Straße der Gerechten“ in der Gedenkstätte „Yad Vaschem“ in Jerusalem ein stilles Zeugnis ihrer Liebe zu Israel ab. Sie sind wahre Helden in einer mörderischen Zeit gewesen, da sie sich für Menschen einsetzten und oftmals dabei ihr eigenes Leben verloren. Ich möchte nun den heute zu beobachtenden Trend an drei Begebenheiten aufzeigen.
Christen werden Juden
Jemand sagte mir einmal: „Es ist besser, über die Zugehörigkeit zu Jesus zu schweigen, wenn man dafür zum Judentum übertreten kann“. So weiß ich von einer ganzen Reihe von Personen, die heute offiziell als Juden gelten. In Wirklichkeit wurden sie aber als Nichtjuden geboren, bevor sie zum Judentum konvertierten. Ist das religiöse Leben in den Ordnungen rabbinischer Frömmigkeit wirklich höher einzustufen als alle anderen Formen christlicher Lebenspraxis?
Christen übernehmen jüdische Formen
Ein zweites Beispiel: Ich folgte einer Einladung in das benachbarte Ausland, um dort eine messianische Synagoge zu besuchen. Wie man mir gesagt hatte, treffen sich dort über 500 Juden, die messiasgläubig geworden sind, aber dennoch in der orthodoxen Praxis der jüdischen Synagoge bleiben. Im Gespräch mit einigen Besuchern kam dann allerdings heraus, dass die Mehrheit als Nichtjuden geboren worden waren. Sie waren jedoch zur Erkenntnis gekommen, dass der christliche Glaube durch die Kirche falsch interpretiert und verfälscht wurde. Ihrer Auffassung nach seien die christlichen Feiertage heidnischen Ursprungs, und nur die jüdischen Feiertage seien von Gott gewollt. Dies war für sie der Anstoß, alles daran zu setzen, als „geistliche Juden“ jüdisch zu leben, da sie durch den Glauben an den jüdischen Messias dem Volk der Juden angehörten. So verlange es das Neue Testament, wird behauptet. Sie tragen die Kopfbedeckung und halten nicht nur die Speisegebote, den Schabbat und die jüdischen Festtage, sondern lassen auch ihre Söhne beschneiden, feiern die Bar- und Bat-Mitzwa (Fest der religiösen Mündigkeit), und Hochzeiten finden unter der Chupa im jüdischen Ritus statt. In dieser Synagoge wurde auch während des Gottesdienstes nicht nur der vorgegebene Tora-Abschnitt gelesen, sondern auch aus dem jüdischen Gebetsbuch, dem Siddur, gebetet. Alles in allem wurde eine synagogale Form praktiziert, wie ich es nur aus meiner eigenen Kindheit kannte.
Sicher ist es richtig, dass so mancher christliche Gottesdienst viel eher einer Gemeindenachrichten-Veranstaltung gleicht, in der Gebet und Anbetung Gottes nur wenig Raum einnehmen. Aber ist die heutige Form jüdischen Lebens und des Gottesdienstes auch die ursprüngliche Form des Christentums?
Christen werden Zionisten
Wiederum traf ich mir lieb gewordene Menschen, die als Nichtjuden zur Erkenntnis gekommen waren, formal zum Judentum übertreten zu müssen, um dann als „jüdische Zionisten“ den Kampf für Israel zu unterstützen. Dass sie ursprünglich als Christen einer Gemeinde angehört hatten, hatte nur noch eine untergeordnete Bedeutung. Sie vertreten die Ansicht, es sei der Wille Gottes, sich mit Leib und Leben für Israel und den Zionismus einzusetzen.
Die Frage nach der Motivation
Bei all diesen Beispielen geschieht im Grunde Unrecht gegenüber der jüdischen Gemeinschaft. Das Judentum wird für die persönlichen geistlichen Bedürfnisse instrumentalisiert. Auch wenn vieles unter „geistlichen“ Vorsätzen geschieht, sucht man die Identität in einer Form und nicht im neuen Leib Christi aus Juden und Nichtjuden. Wir wissen, dass wir viel vom Judentum lernen können, doch das jüdisch-religiöse Leben entspricht im Wesentlichen geschichtlich-talmudischer Tradition, die oftmals weit von der biblischen Grundlage entfernt ist. Der Wuppertaler Gemeinderabbiner Baruch Rabinowitz hat Recht, wenn er sagt: „In der heutigen Zeit bestehen alle Strömungen des modernen Judentums überwiegend aus Ritualen und gottesdienstlichen Traditionen. Das ganze Glaubensgebäude beruht auf dem Wissen unserer Väter, wie es Tora und Talmud lehren. Was uns fehlt, ist eine lebendige Verbindung zu Gott“ (Jüdische Allgemeine, Nr. 2/05). Gott hat diese Formen benutzt, um sein Volk zu erhalten. Aber sie beruhen nicht immer auf biblischen Prinzipien.
Die gemeinsame Identität
In Christus, dem Messias, finden wir die gemeinsame Identität. Dabei muss die Unterschiedlichkeit nach dem biblischen Zeugnis nicht aufgehoben werden (vgl. Apostelgeschichte 15). Daher geht es eher um die Frage, wie Christen leben und ihre Gottesdienste gestalten sollen, damit sie genauso attraktiv sind und die biblische Bedeutung der Feste zum Ausdruck kommt. Es macht jedoch keinen Sinn, die jüdische über die christliche Lebensform zu stellen. Christus ist die Mitte. Nicht umsonst sagt uns der jüdische Rabbinengelehrte Paulus: „In Christus liegen alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis Gottes verborgen“ (Kol. 2,3). „So sind wir Bekenner des Evangeliums vor Juden und Nichtjuden“ (Römer 1,14) unabhängig davon, welche Ergebnisse es hat.
Die Herausforderung
Hier liegt die Herausforderung der neutestamentlichen Gemeinde, keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden zu machen und beide in Christus zu lieben. Ich glaube, hier lag das Geheimnis jener Menschen, deren Namen heute in „Yad Vaschem“ auf der „Straße der Gerechten“ festgehalten sind. Die vorbehaltslose, tätige Nächstenliebe.