Von Jurek Schulz
Die Rufe nach einem weltweiten Boykott Israels werden immer lauter. Dadurch stehen diejenigen unter zunehmendem Druck, die sich öffentlich gegen die Isolierung Israels wenden.
Die zunehmende Polarisierung macht auch vor Kirchen und Gemeinden nicht Halt, so dass dort beim Thema Israel verstärkt eine Unsicherheit zu beobachten ist. Damit meine ich nicht die theologischen Auseinandersetzungen zwischen Erwählung und Verwerfung Israels. Vielmehr stellt sich für viele Gemeindeglieder angesichts der Boykottaufrufe ganz persönlich die Frage, welche Haltung denn nun richtig sei. Bei meinen Reisen und Vorträgen begegnet mir unter Gläubigen beides, sowohl Verständnis als auch Sorge hinsichtlich dieser Entwicklung.
Oftmals liest und hört man vor allem Schlagwörter gepaart mit einer Vermischung rein politischer und religiös motivierter Stellungnahmen. Das alles macht es dem Einzelnen schwer, sich eine tiefgründige Meinung zu bilden. Ich will an dieser Stelle versuchen, einen Überblick zu geben.
Boykottaufruf und Kairos-Palästina-Dokument
Die internationale Kampagne unter der Bezeichnung Boycott, Divestment and Sanctions (BDS, zu Deutsch: Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen) wurde am 9. Juli 2005 auf den Aufruf von mehr als 170 palästinensischen Nicht-Regierungsorganisationen hin ins Leben gerufen. Sie erregte weltweit Aufsehen und wird von zahlreichen einflussreichen Persönlichkeiten unterstützt. Bei dem Unterfangen geht es um den weltweiten Boykott und die Isolierung Israels in den Bereichen Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Bildung und Sport. Am 11. Dezember 2009 wandten sich Christinnen und Christen Palästinas, darunter Bischöfe und Theologen, aber auch Laien, mit dem sogenannten „Kairos-Palästina-Dokument“ an die Öffentlichkeit. Bewusst wurde der Name in Anlehnung an das „Kairos-Dokument“ in Südafrika von 1985, das die Überwindung der Apartheid und Rassentrennung forderte, gewählt. Der vollständiger Titel lautet: „Die Stunde der Wahrheit. Ein Wort des Glaubens und der Hoffnung aus der Mitte des Leidens der Palästinenser“. Das Kairos-Palästina-Dokument forderte Unterstützung für den Aufbau einer palästinensischen Gesellschaft, die auf Liebe, Vertrauen und Gerechtigkeit gründet, verurteilte die „israelische Besatzung der palästinensischen Gebiete“ und schloss sich dem BDS-Aufruf an.
Kirchliche Unterstützung und Gegenwehr
Das Kairos-Palästina-Dokument fand die Zustimmung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK, Weltkirchenrat) in Genf, was zu weltweiter Aufmerksamkeit führte. Der ÖRK mit seinen 349 Mitgliedskirchen in 120 Ländern verschaffte dem Boykottaufruf als Teil des Kairos-Palästina-Dokuments auch im kirchlichen Bereich Gehör. Allerdings geht es dem Dokument um mehr als einen Warenboykott. Vielmehr wird Israel die Schuld an der Not der Menschen im Nahen Osten zugewiesen.
Der Aufruf zum Boykott israelischer Waren wurde von den Kirchen gehört. Sowohl die katholische Organisation „Pax Christi“ als auch die evangelische Vereinigung „Solidarische Kirche im Rheinland“ unterstützen aus christlicher Solidarität diese Kampagne. Erst kürzlich hatte ich in meiner Versammlung eine Diskussion mit einem Geistlichen, nachdem er selbst aktiv an öffentlichen Demonstrationen gegen Israelprodukte vor Lebensmittelgeschäften teilgenommen hatte.
Auch die evangelisch-lutherische Kirche Schwedens erklärte sich solidarisch hinsichtlich dieses Aufrufs und sprach sich für den Boykott israelischer Produkte aus den „palästinensischen Gebieten“ aus. In den USA schlossen sich die United Church- of Christ und verschiedene andere Kirchenverbände dieser Linie an. Ebenso werden in Großbritannien, Dänemark Frankreich, ja in ganz Europa die ersten Maßnahmen der Boykottierung Israels auf verschiedenen Ebenen vollzogen.
Nicht alle sind damit einverstanden. Die badische Landessynode stellte im Jahr 2010 fest: „Ein Aufruf zu Wirtschaftssanktionen und zum Boykott ist für viele Deutsche aufgrund der Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus undenkbar.“ Auch Pfarrer Klaus Müller, der landeskirchliche Beauftragte für das christlich-jüdische Gespräch in Baden, wehrt sich gegen die einseitige Schuldzuweisung in der Erklärung und die Gleichsetzung Israels mit einem Apartheidstaat.
Es sind inzwischen weltweit viele Stimmen zwischen Befürwortung und Ablehnung des Dokuments vorhanden. Im Umgang mit Israel scheint sich zunehmend ein Riss zu bilden, der die Menschheit spaltet. Unweigerlich werde ich an das Wort von Sacharja erinnert: „Wie ihr ein Fluch unter den Nationen gewesen seid, Haus Juda und Haus Israel …“ (Sach. 8,13a). An Israel reiben sich die Völker. Und noch eine weitere, treffende Aussage, diesmal von Ephraim Kishon, drängt sich mir auf: „Mein Land ist eine Insel. Aber nicht von Wasser, sondern von Hass umgeben.“ Der Kampf um Israel wird auch in der Zukunft nicht abebben und weiterhin die Nationen erhitzen.
Vielschichtiger Boykott
Die Boykottmaßnahmen und -bestrebungen sind vielfältig. Da werden Wirtschaftsinvestitionen in Israel zurückgezogen, wie das kürzlich durch Dänemark geschah. Auf akademischer Ebene sollen weltweit keine israelisch-jüdischen Professoren mehr an internationale Universitäten eingeladen werden. Die „Palästinensische Kampagne für den akademischen und kulturellen Boykott Israels“ ruft dazu auf, alle israelischen Universitäten zu boykottieren.
Die Verleihung des Adorno-Preises an die Philosophin Judith Butler sorgte für Protest seitens des Zentralrats der Juden, da der Philosophin und Dozentin an der University of California (Berkeley) vorgeworfen wird, sie unterstütze die Boykottbewegung gegen Israel. An ihrer Hochschule wird neuerdings das Fach „Boykott gegen Israel“ von einer pro-palästinensischen Organisation unterrichtet. Darin geht es um die Bedeutung von Anti-Israel-Initiativen und deren Taktiken. Mehr als 170 Studenten, unter ihnen auch zwei Professoren, besuchten die erste Vorlesung.
Wird die Delegitimierung Israels in der Welt zur Normalität? In der Schweiz sah ich im Zürcher Hauptbahnhof anlässlich des 65. Jahrestages der Existenz des Staates Israel ein Plakat, das mit folgendem Slogan zynisch zum Boykott aufrief: „65 Jahre Unrecht an den Palästinensern. It’s Kosher to Boycott Israeli Goods!“ (Der Boykott israelischer Produkte ist koscher!).
Erschreckend ist auch eine Kampagne von BDS Schweiz. Auf ihrer Homepage stellen sich zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens, wie Politiker, Lehrer, und Juristen, mit Foto und Namen zu der Aussage: „Israelische Produkte? Nein, danke!“
Wohin führt das alles?
Unzählige weitere Aktionen in ganz Europa könnten aufgelistet werden, von denen nur wenige ihren Weg in die Medienberichterstattung finden, z.B. wie jüdische Künstler ausgeladen oder israelische Sportler boykottiert werden, oder die jüngste Aktion der Band Pink Floyd im Berliner Olympiastadion, die Kunst und Meinungsfreiheit dazu nutzte, um auf ein übergroßes, schwebendes Schwein einen Davidsstern zu platzieren, um damit ihre Israelkritik zum Ausdruck zu bringen. Selbst Gewerkschaften, wie in Großbritannien geschehen, haben sich den Boykottaufrufen angeschlossen.
Bei dieser gegenwärtigen Entwicklung werde ich unweigerlich an den evangelischen Pfarrer Friedrich Wilhelm Auer erinnert. Er gehörte der bayrischen Landeskirche an und veröffentliche seine antisemitische Studie „Das jüdische Problem“ bereits 1921, also lange vor den Nürnberger Rassegesetzen von 1935. Darin ruft er zum Boykott jüdischer Geschäfte auf, was ab 1933 von der NSDAP überall im deutschen Reich durchgesetzt wurde. Der Slogan der Nationalsozialisten gegen jüdische Geschäfte hieß von da an: „Kauft nicht bei Juden!“ Wohin dies führte, ist bekannt.
Israelkritik und Kritik an Israel
Doch wie soll man sich heute verhalten? Ist jegliche Israelkritik illegitim? Schon allein diese Formulierung lässt aufhorchen. Wer hat schon jemals von „Deutschlandkritik“ oder „Russlandkritik“ als eigenständigem Begriff gehört?
Vielleicht sollte man differenzieren zwischen Kritik an Israel und Israelkritik. Der Staat Israel macht nicht alles richtig. Welches Land kann das schon von sich behaupten? Hinzu kommt, dass die politische Situation Israels bedeutend schwieriger ist als die Deutschlands oder der Schweiz. Wie sähe die Reaktion von deren jeweiliger Regierung aus, wenn einflussreiche Kräfte der Nachbarländer ihrem Staat mehr oder weniger offen die Daseinsberechtigung absprächen?
Natürlich darf man Israel kritisieren. Am meisten wird die israelische Regierung von ihren eigenen Bürgern kritisiert. Da der Staat eine funktionierende Demokratie ist, darf das jeder in aller Freiheit tun. Selbst Parlamentarier dürfen sich öffentlich gegen den Staat Israel wenden.
Wenn Israelkritik aber bedeutet, Israel allein die Schuld für die Not der Palästinenser in den palästinensischen Autonomiegebieten und im Gazastreifen zu geben, wird die Situation sehr einseitig wahrgenommen. Hier gäbe es unzählige Fakten aufzuzählen, von denen nur wenige in die Fernsehnachrichten gelangen. Die israelischen Firmen in palästinensischen Gebieten verschaffen vielen palästinensischen Familien ein sicheres Einkommen. Israel liefert Strom und Wasser in die Gebiete, aber dort ist es „nicht üblich“, dafür zu bezahlen. Nicht unerwähnt bleiben sollte auch der völkerrechtliche Status der palästinensischen Gebiete, der längst nicht so klar ist, wie es in den BDS-Kampagnen oder den Verlautbarungen der UNO scheint. Die einseitige Sicht Letzterer zeigt sich zum Beispiel auch daran, dass sie 1977 den 29. November zum „Internationalen Tag der Solidarität mit dem palästinensischen Volk“ erklärte – den Tag, an dem sie 30 Jahre zuvor ihren Teilungsplan Palästinas verabschiedet hatte.
Nicht vergessen sollten wir auch die geistliche Dimension: Der Widersacher Gottes setzt alles daran, Israel als Gottes erwähltes Volk vor den Nationen in Verruf zu bringen. Wer den Nahostkonflikt auf die politische Dimension reduziert, wird ihm nicht gerecht. Jerusalem war in der Vergangenheit zentral für die drei monotheistischen Weltreligionen und wird es auch in Zukunft sein. Deshalb ist es neben allen politischen Fragen und Kampagnen entscheidend, mutig von Jesus, dem Messias Israels und Heiland der Welt, weiterzusagen. Denn nur ER kann Herzen verändern und dadurch einen Wandel der Verhältnisse herbeiführen. Das ist mein Herzenswunsch.
Übrigens noch ein Wort zum Schluss: Haben Sie keine Angst, israelische Produkte zu kaufen, Sie sichern damit auch in der Zukunft Arbeitsplätze der Palästinenser.