Die Begründer des rabbinischen Judentums

Von Jurek Schulz

In der jüdischen Tradition gelten Esra und Nehemia als Reformatoren; Esra betätigte sich zugleich als Historiker.
In der hebräischen Bibel sind Esra und Nehemia in einem Buch zusammengefasst, das nur den Namen Esra trägt. Erst durch den Kirchenvater Origenes wurde ihr Wirken in zwei Bücher aufgeteilt. Ab dem Mittelalter wurde diese Trennung auch in der hebräischen Bibel mit der Bezeichnung „Esra/Nehemia“ übernommen.
Auffallend ist, dass sich bei Esra mehrere Passagen in aramäischer Sprache finden: der Erlass von Kyrus (Esr. 1,1-4), der Brief von Schimschai an den König Artahsasta (griech. Artaxerxes, Esr. 4,7-16) und die Vollmacht von Artaxerxes für Esra (Esr. 7,11-26).

Die Zeit der Rückführungen
Bevor wir uns mit weiteren Besonderheiten der beiden Bücher befassen, wenden wir uns den Autoren zu. Wir befinden uns in der Zeit des Exils in Babylon nach der Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezar (ca. 586 v. Chr.), als es zu drei Rückführungswellen kam, an denen auch Esra und Nehemia beteiligt waren. Unter Serubbabel konnten ca. 537 v. Chr. rund 50 000 Israeliten nach Jerusalem zurückkehren (Esr. 1,1-2). Esra führte ca. 457 v. Chr. etwa 1800 Israeliten zurück (Esr. 8,1-14). Die dritte Rückführung unter Nehemia fand ca. 444 v. Chr. statt (Neh. 2,8-10).
Esra lebte im 5. Jahrhundert v. Chr., stammte aus dem levitischen Geschlecht der Linie Aarons und war ein Nachkomme Hilkijas (Esr. 7,1-3). Das ist insofern interessant, als der Hohepriester Hilkija die Reformbemühungen von König Josia unterstützte, der das ganze Volk Israel zu den Ordnungen Moses zurückführte (2. Chr. 34,1ff.). Vielleicht sah Esra in ihm das Vorbild für sein Handeln. Esra arbeitete als Priester (Neh. 8,2) und achtete genau darauf, dass ganz Israel sich an der Tora ausrichtete (Esr. 7,10).
Nehemia war Diener am Hof des Perserkönigs Artaxerxes, der ihm gestattete, 444 v. Chr. als persischer Statthalter über Judäa nach Jerusalem zurückzukehren. Er erhielt vom König die Vollmacht, die Stadtmauer Jerusalems wieder aufzubauen, und vollendete den Bau innerhalb von 52 Tagen (Neh. 6,15).
Übrigens haben sich mit der Rückführung Israels aus der babylonischen Gefangenschaft die Prophetien Jesajas und Jeremias erfüllt, die ca. 150 Jahre vorher verkündet wurden. In Jesaja 44,24 – 45,1 verspricht Gott, dass er Kyrus dazu gebrauchen wird, dass Juda wieder heimkehren kann, was unter Serubbabel geschah. In Jeremia 25,11-12 wird ein 70 Jahre dauerndes Exil vorhergesagt. Tatsächlich vergingen zwischen der Zerstörung des ersten Tempels in Jerusalem unter Nebukadnezar ca. 586 v. Chr. und der Einweihung des zweiten Tempels 516 v. Chr. 70 Jahre. Mit dem Bau des zweiten Tempels wurde bereits 536 v. Chr. unter Serubbabel begonnen. Er besaß drei Stockwerke und war 30 Meter breit, 30 Meter hoch und 50 Meter lang (Esr. 6,3-4). Damit war er ca. ein Drittel größer als der (erste) Salomonische Tempel (1. Kön. 7,2-3).

Die neuen Ordnungen
In der rabbinischen Literatur gilt Esra als Reformator und Begründer des modernen rabbinischen Judentums. Er setzte nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft die große Synode wieder ein (Esr. 10,16). Diese hohe Ratsversammlung, auch „Sanhedrin“ genannt, wirkte bis zur Zerstörung Israels im Jahre 70 n. Chr. und setzte die Tora wieder als Gesetz Israels ein (Esr. 3,2; 7,10).
Deshalb wird Esra in der jüdischen Literatur als derjenige hervorgehoben, der die Tora des Mose für Israel wieder eingeführt hat (bSuk 20a). Viele Ordnungen im heutigen Judentum gehen auf ihn zurück:
1. Im Schabbat-Nachmittagsgebet (Mincha) die Tora zu lesen.
2. Die Tora darüber hinaus auch montags und donnerstags zu lesen.
3. Rabbinische Gerichtssitzungen montags und donnerstags abzuhalten.
4. Die Schabbatkleider bereits am Donnerstag zu waschen.
5. An den Wochentagen immer drei Männer zum Toralesen aufzurufen, die mindestens zehn Verse der Tora in Hebräisch lesen sollen.
6. Die Tora nur in hebräischer Quadratschrift, nie in hebräischer Schreibschrift (etwa vergleichbar mit der lateinischen Block- und Schreibschrift), zu kopieren (bSan 21b).
7. Die Gestaltung der Tora-Lesung in Nehemia 8 wurde zum architektonischen Vorbild für den Bau von Synagogen. Die Tora muss innerhalb der Bima, einer Erhöhung innerhalb der Synagoge, gelesen werden (Neh. 8,4). Beim Schacharit-Gottesdienst (abends) werden sieben weitere Personen aufgerufen, die rechts und links daneben stehen und darauf achten, dass die Lesung im richtigen Wortlaut stattfindet. (Beim Mincha-Gebet- werden nur drei Personen aufgerufen.) Danach werden die entsprechenden Passagen erklärt (Neh. 8,7), so dass sie von allen – Männern, Frauen und Kindern – gehört und verstanden werden können (Neh. 8,3).
8. Mischehen, besonders wenn es sich um nichtjüdische Frauen handelt, werden noch heute nicht begrüßt, und die Kinder aus Mischehen sind in jüdisch-orthodoxen Kreisen von mancherlei geistlichen Diensten ausgeschlossen (Esr. 10).

Weitere rabbinische Ordnungen sind dem Nehemiabuch (8,1.8.15.18; 9,3.14; 10,30-40) entnommen:
1.  Verbot von Mischehen
2.  Kein Warenwirtschaftsverkehr (Handel) am Schabbat
3.  Festgelegte Ordnungen für die Fest- und Feiertage
4.  Auslösung des erstgeborenen Sohnes (Pidjon HaBen)
5.  Der Erlass des Schabbatjahres (7. Jahr = Schmittajahr): Ruhezeit für das Land

Der Historiker
Höchstwahrscheinlich war Esra der Verfasser der Chronik-Bücher (ca. 430 v. Chr.), denn ihre letzten Verse stimmen exakt mit den ersten Versen im Esra-Buch überein. Esra fasste in diesen Geschichtsbüchern einen Zeitraum von fast 3500 Jahren zusammen, angefangen bei Adam bis zur Rückkehr Judas aus dem babylonischen Exil (515 v. Chr.).
In dieser Aufzeichnung der Geschichte Gottes mit seinem Volk gibt es manche Wiederholungen aus den Samuel- und Könige-Büchern. Die Unterschiede bestehen darin, dass die Chronik-Bücher …
1. … nach der Deportation der Bewohner des Nordreiches (10 von 12 Stämmen Israels) nach Assyrien 722 v. Chr. ihren Fokus hauptsächlich auf das verbleibende Südreich Juda richten.
2. … mehr Erklärungen zu manchen Sachverhalten beinhalten, während in den Samuel- und Könige-Büchern nur nüchtern berichtet wird. So nennen die Chroniken etwa den Grund, warum König Saul sterben musste (1. Chr. 10,1-14).
3. … Ausführungen zur Bedeutung des Tempels, der Priester und der Tora einen größeren Raum geben.In den Chroniken liegt der Schwerpunkt auf dem Verhältnis der Menschen zu Gott und seinen Ordnungen. Dabei wird eines deutlich: Die Gnade und Treue Gottes sind überaus groß.

Umfassende Quellen
Die bei uns in das 1. und 2. Buch der Chronik aufgeteilten Kapitel sind in der hebräischen Bibel ein Buch und heißen Dibre hajjamim, das bedeutet „Begebenheiten der Tage“. Tatsächlich gab es diese täglichen Aufzeichnungen der Begebenheiten, wie in Nehemia 12,23 und Ester 2,23b erwähnt: „Und es wurde aufgezeichnet im Buch der täglichen Meldungen für den König.“
Hinweise darauf, dass Esra weitere Quellen für seine Aufzeichnungen benutzte, finden wir in den Chroniken selbst. Genannt werden etwa
 Buch der Könige von Juda und Israel (2. Chr. 16,11; 25,26)
 Erläuterungen (Midrasch) des Buches der Könige (2. Chr. 24,27)
 Begebenheiten von Jehu (2. Chr. 20,34)
 Begebenheiten von Samuel, Natan und Gad (1. Chr. 29,29; 2. Chr. 9,29)
 Erläuterungen (Midrasch) von Iddo (2. Chr. 13,22)

In der jüdischen Tradition spielt das Chronik-Buch überhaupt keine Rolle und ist nahezu unbekannt. Der Talmud sagt, dass das Buch in der Zeit des Tempels vom Hohepriester am Jom Kippur nachts gelesen werden sollte, damit er nicht einschläft (Michna Joma 1,6).
Nur die beiden Psalmen in 1. Chronik 16,8-36 und 29,10-13 haben Eingang in die jüdische Liturgie gefunden.

Der Prophet
Messianische Aussagen finden wir in Esra und Nehemia nicht, wenn wir nicht allegorisch deuten wollen. Dafür finden sich in den Chronik-Büchern einige wenige messianische Hinweise, die aber sehr wesentlich sind. Die ewige Herrschaft des Messias im Hause Gottes und unter der Königsherrschaft Gottes wird besonders betont.

Im Buch Nehemia gibt es jedoch einen wunderbaren Lobpreis (Neh. 9,5-6), mit dem ich schließen möchte: „Auf! Lobet den HERRN, euren Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Und man lobe seinen herrlichen Namen, der erhaben ist über allen Preis und Ruhm! HERR, du bist’s allein, du hast gemacht den Himmel und aller Himmel Himmel mit ihrem ganzen Heer, die Erde und alles, was darauf ist, die Meere und alles, was darinnen ist; du machst alles lebendig und das himmlische Heer betet dich an.“

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